
Auf dem
Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg entdeckte ich diesen Grabstein. Otto Witte liegt hier begraben, der mit seinem Allerweltsnamen an sich noch keine Aufmerksamkeit erregt. Der Zusatz auf seiner Grabplatte machte mich aber dann doch so neugierig, dass ich davon Fotos schoss. Ehemaliger König von Albanien soll Otto Witte gewesen sein, hat der Steinmetz vermerkt. Bei einer Visitenkarte hätte ich das wahrscheinlich mit einem Kopfschütteln abgetan. Papier ist schließlich geduldig und muss deswegen allzu oft großen Unsinn ertragen.

Hier hat sich aber jemand die Mühe gemacht, die Sache in Stein zu meißeln. Da lohnte sich dann doch, mal nachzuforschen, ob da was dran ist.
Obwohl Otto Witte nicht gerade ein typisch aristokratischer Name ist und sich deshalb für einen König wenig eignet, schon gar nicht für den von Albanien, ist die Geschichte, die ich dazu herausgefunden habe, ebenso abenteuerlich wie berichtenswert. Niemand soll weiterhin behaupten, Steine könnten nicht reden. Dieser Grabstein kann es.
Otto Witte wurde in Diesdorf bei Magdeburg geboren, am 16. Oktober, nach der Inschrift auf dem Grabstein im Jahre 1872, was wohl die unbedeutendste Ungereimtheit in seinem Lebenslauf ist. In seinem letzten Bundespersonalausweis stand als Geburtsjahr nämlich 1871. Welche Jahreszahl die richtige ist, braucht hier nicht vertieft zu werden. Das ist für seine Regentschaft vollkommen unerheblich. Jeder mag für sich selbst entscheiden, wem er mehr vertraut, dem Steinmetz oder dem Beamten.
Bei herumreisenden Schaustellern aufgewachsen, blieb bei Otto Witte die Schulbildung auf der Strecke. Nur zwei Jahre soll er eine Schule besucht haben. Mit Lesen und Schreiben war daher bei ihm nicht viel los. Dafür verstand er sich umso besser auf Zauberkunststücke und Wahrsagerei durch Handlesen. Damit schlug er sich erst einmal durchs Leben, bis er zunehmend mit viel Charme und einer unübertrefflichen Dreistigkeit in Situationen geriet, die bei seiner Herkunft wohl niemand vorausgesehen hatte. Er führte seine Kunststücke sogar dem serbischen Königspaar vor, schloss sich einer Nilexpedition an, war Taucher bei einer Tiefseeexpedition in Indien und noch allerlei mehr. Bei der Fremdenlegion ging er stiften, weil es ihm da nicht gefiel. Ein Zubrot verdiente er sich mit Schmugglergeschäften. Auch Papiere wurden gefälscht, wenn das was einbrachte. Nebenbei eroberte er mehrfach Frauenherzen, wobei er streng darauf achtete, dass die Damen wohlhabend genug waren, um ihn eine Zeitlang angemessen zu unterhalten. Er soll sogar einmal mit einer richtigen Prinzessin durchgebrannt sein, was allerdings nicht lange dauerte. Die beiden wurden bald wieder eingefangen, worauf Otto im Kerker landete und die Prinzessin auf dem Schoße ihres Vaters, der ihr nach derlei Ungezogenheit kräftig den Hosenboden stramm zog. Irgendwie schaffte Witte es, sich aus dem Gefängnis zu befreien. Später zog er über Jahrmärkte, bändigte Raubtiere, und zeitweise soll er auch eine Abdeckerei geführt haben, und eine Obstplantage.
Zwischendurch war er auch mal kurz König von Albanien. Fünf Tage nur, aber immerhin. Die Gelegenheit war günstig, und da überlegte ein Otto Witte nicht lange, sondern er griff einfach zu.
Nach dem ersten Balkankrieg im Jahre 1912 war Albanien selbstständig geworden. Otto Witte hatte sich bei der türkischen Armee verdingt und war dort, als Belohnung für erfolgreiche Spionagedienste, schnell zum Major aufgestiegen. Die politische Lage in Albanien war unsicher. Die Einsetzung eines Königs sollte Ruhe schaffen und die Nachbarstaaten davon abhalten, sich Albanien einzuverleiben. Ein Neffe des Sultans, der Prinz Halim Eddine, war als Monarch vorgesehen. Davon erfuhr Otto Witte, der oft darauf angesprochen worden war, dass er diesem Prinzen äußerst ähnlich sehe. Das musste er doch ausnutzen. Zusammen mit seinem Freund und Kollegen, dem Schwertschlucker Max Schlepsig, reiste er nach Albanien. Bei einem Kostümverleih erwarb er eine Phantasieuniform, damit man ihm seine hohe Stellung auch abnehmen sollte. Mit zwei getürkten Telegrammen kündigte er der albanischen Regierung die Ankunft des türkischen Prinzen an, der derweil nichtsahnend in Konstantinopel saß. Die prachtvolle Uniform und die Ähnlichkeit Wittes mit dem Prinzen verfehlten ihre Wirkung nicht. Man nahm ihm ab, Prinz Halim Eddine zu sein. Am 15. Februar 1913 wurde er feierlich zum König von Albanien gekrönt. Seinen Freund Max Schlepsig beförderte er vom Schwertschlucker zum Kammerherrn. Otto Witte, jetzt König von Albanien, nahm unverzüglich seine Amtsgeschäfte auf, indem er eine Regierung einsetzte und Kommandeure ernannte. Damit war die Arbeit verteilt. Er selbst gab Festbankette, ließ sich feiern und vor allen Dingen, nach alter orientalischer Sitte, von den Damen seines Harems verwöhnen. Schon nach wenigen Tagen wurde es allerdings ungemütlich, denn der wirkliche Prinz Halim Eddine hatte sich aus Konstantinopel gemeldet. Der hatte davon erfahren, dass er zum König von Albanien gekrönt worden sein sollte, wovon er aber gar nichts wusste. Otto Witte, seitdem wieder bürgerlich, und Max Schlepsig verdufteten am 19. Februar 1913 aus Albanien, natürlich nicht, ohne sich vorher schnell noch einmal kräftig aus der königlichen Schatzkiste bedient zu haben. Sie entkamen gerade noch rechtzeitig. Sonst hätte man ihnen vermutlich die Köpfe von den Rümpfen abgetrennt, eine Behandlung, die sich im Verlaufe der Geschichte schon einige Monarchen gefallen lassen mussten, die ihr Volk verärgert hatten. Verdenken können hätte man das den betrogenen Albanern nicht.
Ob die Geschichte stimmt oder ob sie nur in Otto Wittes Phantasie stattgefunden hat, wird wohl nie geklärt werden. Vermutlich von beidem etwas. Sein Geheimnis hat Otto Witte nach seinem Tod am 13. August 1958 in Hamburg mit in sein Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof genommen. Auf alle Fälle muss er seine Erlebnisse überzeugend dargelegt haben, denn immerhin hat ihm das damalige Reichsgericht ausdrücklich das Recht zugesprochen, den Titel des ehemaligen Königs von Albanien im Rechtsverkehr offiziell zu führen. Er war in seinem Ausweis eingetragen und Behörden haben die Post an ihn auch so adressiert. Dann gehört das selbstverständlich auch auf seinen Grabstein.
Als 2005 ein Deutscher zum Papst gewählt wurde, prangte die Schlagzeile
Wir sind Papst auf der Titelzeile einer deutschen Zeitung. Ob die Idee so neu war? Wer weiß? Vielleicht war schon 1913 zu lesen:
Wir sind König von Albanien.Otto Wittes Lebensgeschichte diente als Stoff für einen Roman von Harry Turtledove (Every Inch a King), wurde außerdem von Alfred Lux literarisch verarbeitet und ist Vorlage des Musicals
Fünf Tage König von Johannes Schlecht und Margot Friedrich.
Otto Witte selbst hatte seine Erlebnisse schon 1932 und 1939 als Buch veröffentlicht.
Grabstelle des "ehemaligen Königs von Albanien" auf Google-Maps ansehen.
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Die Informationen zu Otto Witte stammen aus den folgenden Quellen im Internet:
http://www.heimbacher-infoblatt.de/K%C3%B6nig%20von%20Albanien.htm (mit Foto des Personalausweises des ehemaligen Königs von Albanien)
http://www.ansichtskarten-pankow.de/witte.htm (Bildergalerie, unter anderem mit zwei Behördenbriefen an den ehemaligen König von Albanien)
http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Witte (Wikipedia deutsch)
http://en.wikipedia.org/wiki/Otto_Witte (Wikipedia englisch)
http://www.soem.info/guenstedt/sagen.php?id=4http://www.franzoesisch-buchholz.de/witte.htmlhttp://www.vcp-pankow.de/owkoenig.htmlhttp://www.luise-berlin.de/Bms/bmstxt97/9712lexa.htmhttp://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,868723-1,00.html (TIME-Artikel vom 25. August 1958 zum Tode von Otto Witte)